15. Oktober 1839
Allen alten Urkunden aus dem hohen Mittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert kann man entnehmen, daß der Kampf um das tägliche Brot unwahrscheinlich hart gewesen ist. Über die Zeit der Leibeigenschaft hinaus war die Befriedigung der geringsten, menschlichen Bedürfnisse unlösbar mit dem Grund und Boden verbunden. Mit der Nutzung des Bodens, sei es als Lehen mit gebundenem Pachtzins, oder sei es als bescheidenes Eigentum, stand oder fiel die Existenzgrundlage.
Bedingt durch die Höhenlagen, im mittleren Edertal bis zu 700 m, erhielt die Viehzucht gegenüber dem Ackerbau ein natürliches Übergewicht. Ein ständiger Kampf um ausreichendes Weideland gehörte deshalb zum täglichen Leben. Weil nun in Wittgenstein die weitaus größeren Flächen im Besitz des Landesherrn waren, gab es um die Grenzen der Feldmarken mit den dazugehörigen Nutzungsrechten einen beinahe ewigen Streit.
Innerhalb der Dorfgemarkung hatten die alteingesessenen Bauern ein kostenloses Huderecht. Es bestand eine absolute Verpflichtung, den Hudebetrieb sowohl beim Rindvieh als auch bei den Schafen gemeinsam durch den Dorfhirten bzw. den örtlichen Schäfer vornehmen zu lassen. Eine genaue Distrikteintei1ung war vorgeschrieben. Noch heute deuten die alten Hausnahmen „Schäfers“ und „Hirtes“ auf diese alten Urberufe hin. Weil die Hirten und Schäfer, durch den täglichen Umgang mit den ihnen anvertrauten Tieren, bei Krankheiten und Unfällen immer auf sich selbst angewiesen waren, galten diese Männer vielfach auch als „Heilkundige“. Bis in die heutige Zeit gibt es auch in ländlichen Räumen die sog. „Knochendoktoren“, welche aufgrund ihres feinen Gefühls für die körperlichen Strukturen mit Erfolg Verstauchungen behandeln, Einrenkungen vornehmen und sogar Knochenbrüche zu heilen versuchen. Hinzu kam eine genaue Kenntnis der Pflanzenwelt. Man wußte, welche Kräuter Gewächse nützlich für den Körper waren und welche schadeten. Immerhin war auch in der Vergangenheit oftmals ein krasser Unterschied zwischen einem Naturheilkundigen und leichtfertigen Scharlatanen vorhanden. Gefährliche Auswirkungen waren auch deshalb nicht selten, weil an Vieh und Mensch oft die gleichen Maßstäbe angelegt wurden.
Weil nun für die vorherrschende Viehzucht eine ausreichende Hude ausschlaggebend war, wurde — vor allem in den sog. trockenen Jahren — streng darüber gewacht, daß keine unberechtigte Nutzung aus Nachbargemeinden erfolgte.
So hat es z. B. im Meckhäuser Tal einen lange währenden Grenzstreit zwischen Berleburg und Dotzlar gegeben. Über die diesbezüglichen Prozesse heißt es in der Berleburger Chronik:
Es wurde heute mit der Berichtigung der Grenzen der Berleburger Feldmark fortgefahren, und begab sich der unterzeichnete Richter auf den Ohrenbach, in dem die anwesenden Interessenten bemerkten, daß von dem Punkt am Latzbruch, wo gestern mit dem Geschäft aufgehört worden, bis hierher die Grenze zwischen dem Fürstlich Wittgenstein-Wittgensteinischen und Wittgenstein-Berleburg Gebiet zugleich die Grenze des städtischen Gebietes resp. der Feldmark bilde und kein Streit obwalte.
Neben der Vertretung der Stadt Berleburg (23 Herren) hatten sich eingefunden von Seiten der Gemeinde Dotzlar:
- Beuter, Daniel Schornsteiners
- Saßmannshausen, Joh. Georg Wasser
- Schäfer, Rath
- Pöppel, Philipp Raine
- Schöffe Grebe Jörges
- Kroh, Christian Georg Försters
- Schulze Georg Böhl Michels
- Wetterm, Heinrich Hebe
- Saßmannshausen, Hermann Thore
Als mit dem Geschäft der Grenzberichtigung begonnen werden sollte, ergab sich, daß die Vertreter der Stadt Berleburg eine ganz andere Linie als Grenze verlangten, wie die Gemeindeglieder der Gemeinde Dotzlar. Es wurde deshalb zuvörderst diejenige Linie begangen, welche die Berleburger Bürger als Grenze zwischen ihrer und der Dotzlar‘schen Feldmark, resp. Hudebezirk angaben. Diese wird gebildet durch den auf dem sog. Ohrenbach stehenden Stein, welcher die Nr. 193 und die Jahreszahl 1764 enthält, und nach der Berleburger Seite die Buchstaben W. B., nach der entgegengesetzten W. W. enthält, und rechts von dem von Berleburg führenden Weg steht. Von da gelangt man zu dem Grenzstein mit der Nr. 192, weiter auf den Grenzstein Nr. 191 A. Von da auf den Grenzstein mit der Nr. 191. Ferner auf den Grenzstein mit Nr. 190, dann auf den mit der Nr. 189 und dann auf einen Stein mit der Nr. 1, welcher die Grenze des Waldes markieren soll.
Dann ging diese Linie über den Rammelsbach, über den Stein Nr. 188, ferner über den Stein mit der Nr. 9, ferner über den Hohen Kopfüber den Grenzstein Nr. 187, von da über den Grenzstein Nr. 180 und ferner den mit der Nr. 185. Dann läuft sie über den Stein, welcher hier den Wald begrenzt und mit Nr. 1 bezeichnet ist. Dann ging man durch den Rammelsbach, wo der Stein mit der Nr. 184 und weiter mit der Nr. 183 die Grenze bilden soll. Ferner ging man über die hohen Steine auf der Honert, wo selbst die Steine mit der Nr. 182 und 181 die Grenze bilden sollen. Von diesem letzten Stein scheidet sich die Landesgrenze von der städtischen Feldmark, indem sich letztere von der ersteren nach rechts hin trennt. Die städt. Grenze soll durch den Wald an der Vootze laufen und wurde als Grenzzeichen ein großer Felsblock, welcher sich dort befand, mit einem hineingehauenen Zeichen folgender Gestalt . . . (Das Zeichen entspricht einer geöffneten 9). . . markiert. Von da geht diese Linie den Berghang hinunter bis zu dem über den dort befindlichen Bach liegendes Brückholz bei Meckhausen, wo man auf einen nach Berleburg führenden Weg stößt. Von da geht die bezeichnete Linie weiter über den Mekhäuser Scheid über das Feld, wo als Grenzzeichen ein dort liegender Stein eingegraben und darunter ein zerschlagener Stein gelegt wurde. Weiter gelangte man zu einem am Wald stehenden Stein, welcher von sämtlichen Comparenten als äußerster Punkt des streitigen Distrikts angegeben wurde. Die Interessenten und Gemeindeglieder von Dotzlar behaupteten dagegen, daß die wahre Grenze der Dotzlar‘schen Feldmark resp. Ihres Hudebezirks durch das Hasenohr, von da durch die Leie, ferner durch die Trift im Grund, von da über die dort befindlichen hohen Steine im Walde, ferner durch den großen Bilsterbach, am Sommerkopf hinauf, über die ferner dort enden 3 hohen Aufwürfe bis zu dem Steine, von wo die heutige Bereisung ausgegangen ist, laufe.
Über die Gegend wurde, da ein Geometer nicht zugegen war, anliegende Handzeichnung nach dem Augenmaß aufgenommen. Eine Vereinigung der verschiedenen Interessen konnte nicht herbeigeführt werden, und hielten sich beide Teile vor, sich demnächst darüber zu beraten, ob sie ihre gegenseitigen Ansprüche im Wege des Prozesses verfolgen, oder solche auf sich beruhen lassen wollten, und baten um Ausfertigung dieses Protokolls zu Händen des Bürgermeisters Pauli.
1754 den 18/12. sind elf alte Bürger als Zeugen und die davon Wissenschaft haben von der Feldmark gegen Dotzlar zu, auf dem Consitorium eidlich abgehöret worden
1756 den 26/7. sind die Prozessakten wegen Dotzlar allhier auf der Regierung geöffnet worden, aber leider der Stadt allhier abgesprochen, und sind solche zu Göttingen gewesen.
1758 den 8/5. sind die Feldmark vom Ohrenbach auf der Wittgensteinschen Grenze nach Dotzlar bis über die Hörre nach dem Wasser Odeborn und auf dem Stippel von sämtlichen Rathspersonen und alten Bürgern begangen worden, und davon auch ein Abriß gemacht, welcher auf dem Rathaus lieget
1759 den25/1.sind die Prozessakten von der Universität Herborn mit der Stadt allhier und dem Dorf Dotzlar eröffnet worden, und insoweit die Stadt gewonnen, betrifft die Feldmark an, also ihre alte Privilegia die Stadt erhalten, und nur 2 Tage in der Woche die Dotzlerische den strittigen orth hüten darf, und verwilligt worden, doch soll solches auch mit Landesherrl. Geschehen.
Ob es nach diesen schwierigen Auseinandersetzungen und den verfaßten Protokollen dann Ruhe gegeben hat, ist mit Sicherheit nicht festzustellen. Dagegen gibt der „letzte Grenzgang“ einen überzeugenden Beweis darüber, mit welchem Eifer der „Kampf um das Recht“ geführt worden ist